„Wo bin ich, wenn ich nicht in der Wirklichkeit bin und nicht in meiner Phantasie“?1 In unserer heutigen, von elektronisch-digitalen Medien dominierten Welt bin ich dann wahrscheinlich vor einem Bildschirm. Aber wo bin ich, wenn ich vor einem Bildschirm bin? Was sich wie die simple Frage nach einer Ortsbeschreibung anhört, stellt sich als Frage nach einer Situation heraus, nämlich nach der Situation zwischen einem Projektor und einer Kamera.

Es ist ein Zwischenraum. Das ist selbst dann der Fall, wenn die technischen Geräte im Zuge ihrer Digitalisierung räumlich so flach (flat-screen) und die Geräte so kombiniert (camcoder, laptop) gebaut sind, dass man sie kaum noch unterscheiden kann. Doch die Situation vor einem Bildschirm ist ihrerseits von einem relativ komplexen, zusammengesetzten Vorgang gekennzeichnet, in dessen technischem Herzen ein „[P]rojektor gezwungen [ist], sich an die Kamera zu erinnern"2.

Das, was man auf einem Bildschirm sieht und hört, ist die Projektion von etwas, was vorher oder zeitgleich aufgenommen wird, bzw. wurde, bzw. worden ist. Da ist also eine Situation in der Wirklichkeit. Das kann die gebaute Realität auf einer Bühne sein, die Realität in einer Kirche, auch die Realität in der Natur, oder anderswo. Alles, was dort sichtbar, hörbar, riechbar, atmosphärisch geschieht, ist Teil dieser Realität, einschließlich der sie räumlich strukturierenden Nähen und Distanzen.

Wird eine solche Realität von einer Kamera genannten Apparatur aufgenommen, so trifft die Kamera zu allererst eine optische Auswahl dieser Realität, in dem die Bildgröße der Kamera einen Teil der Realität ausschneidet und in einen Rahmen stellt. Damit stellt sie optisch Dinge, Personen oder Teile von Personen, wie Gesichter, in den Fokus eines Bildes. Zugleich schließt sie den Rest aus. Innerhalb des Ausschnittes kann sie Distanzen und Nähen verändern. Dinge oder Gesichter erscheinen dann z.B. vergrößert bzw. verkleinert und damit detailreicher oder detailärmer als in der Realität.3

Im ausgeschnittenen Teil der Realität „außerhalb der Kamera“ kann etwas geschehen, was real anwesenden Personen sichtbar ist, Zuschauern der Kameraaufnahme allerdings unsichtbar. Schon durch diese zwei grundlegenden Operationen einer Kamera wird die Realität von der Aufnahme unterschieden. Beide sind nicht deckungsgleich wenngleich sich auch Rücksichten der einen auf die andere ermöglichen.

Das Aufgenommene wird meist zugleich (manchmal nur vorübergehend) gespeichert. Das Gespeicherte wird wieder auf einen Bildschirm projiziert. Durch eine Speicherung kann die Projektion wiederholt werden. In Wiederholungen können komplexe Bearbeitungen hineingemischt werden. Sie vergrößern den Unterschied zwischen einer Wirklichkeit und ihrer Projektion immer mehr. Die Wirklichkeit wird in ihrer Aufzeichnung schließlich durch die Projektion ersetzt.

Wenn ich vor einem Bildschirm bin, bin ich also in einer Projektion. Das ist, wie skizziert, zunächst technisch zu verstehen und schließt je nach Komplexität die Mitarbeit von mehreren Personen wie Regisseurin, Bildregisseur, Kamerafrau, Cutter und komplizierter Technik in Bild und Ton ein. Selbst in einer Livesituation von Aufnahme und Projektion bzw. Ausstrahlung z.B. im Fernsehen, spielen diese technischen Mittel und die sie bedienenden Personen eine gestaltende Rolle. Im Glücksfall wie auf manchen Theaterbühnen, können sie sogar zu Mitspielern werden und unterschiedliche Verhaltensweisen hervorrufen bzw. auf sie reagieren.4

In jedem Falle ist das, was wir als Projektion sehen, ein gestaltetes Kompositum. Es ist metaphorisch und technisch aus mehreren verschiedenen Schichten und Arbeitsvorgängen zusammengesetzt. Sie wirken vorwärts auf die Projektion hin. In ihrer Wahrnehmung wirken sie jedoch auch zurück. In einem Vorführraum oder einem Kino ist das noch sinnlich nachvollziehbar. Räumlich digital komprimiert sitze ich jedoch als Zuschauerin oder Zuschauer direkt vor einem Bildschirm.

Doch was ist ein Bildschirm? Die Antwort auf diese wiederum banal erscheinende Frage, zielt zunächst auf eine beliebige Projektionsfläche, etwa eine weiße Wand, und dann auf ein technisches Gerät, wie einen Computermonitor oder ein Smartphone. Doch nimmt die Frage – und mit ihr auch die Projektion – noch etwas über einen Gegenstand und damit dessen technischer Begrenzung hinaus ins Visier, nämlich den Zuschauer bzw. die Zuschauerin und ihre Innenwelt direkt: „Das Gehirn ist der Bildschirm"5

Damit wird eine Wahrnehmungsform aktiviert und organisch lokalisiert, die wir bis in die Alltagssprache hinein von der Psychologie her Projektion zu nennen die Gewohnheit haben. Je nach psychologischer Lehrmeinung lässt sich diese Wahrnehmungsform mit unterschiedlichen Akzentsetzungen beschreiben.

Allgemein skizziert ist eine Projektion das „Übertragen und Verlagern innerpsychischer Inhalte oder eines innerpsychischen Konfliktes“ nach außen. Etwas weiter zugespitzt werden „Emotionen, Affekte, Wünsche, Impulse oder Eigenschaften“, die im Widerspruch zum eigenen Selbstbild oder auch zu gesellschaftlichen Normen stehen, „auf andere Personen, Menschengruppen, Lebewesen oder Objekte der Außenwelt“ projiziert. Mit unterschiedlicher Stärke wird also etwas von innen nach außen projiziert.

Derartige, auch „Übertragung“ genannte Vorgänge haben häufig die Funktion einer „Abwehr“. Auf diese Art und Weise wird es vermieden, „sich mit Inhalten bei sich selbst auseinanderzusetzen, die man beim anderen sieht“. Es wird etwas „in eine Person oder Situation“ hineinprojiziert, „was dort nicht oder nicht im vorgeworfenen Ausmaß vorhanden ist“.

Es können aber auch Wünsche und Emotionen von innen nach außen projiziert werden als etwas, was dort nicht im gewünschten Ausmaß vorhanden ist. Eine solche Projektion setzt eine Wechselwirkung von innen und außen in Gang und zielt auf ein Beziehungsgeschehen. Etwas subjektiv Inneres kann einem objektiv Äußeren geradezu „einverleibt“ und dann „das eigene im anderen gesehen“ werden. Dies ist zunächst ein „natürliche[r] und immer unbewusste[r] Vorgang"6  und als solcher eine Form unserer Wahrnehmung.  

Wenn wir vor einem Bildschirm sind, sind wir also in einem mehrfachen Sinne innerhalb einer Projektion: „Was wir sehen, schaut uns an"7  betitelt der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman seine metapsychologischen Untersuchungen des Bildes. Gegen Ende wird dort diese Situation des Was-wir-sehen-schaut-uns-an als Situation „zwischen einem Davor und einem Darin"8 charakterisiert, wie vor einer Tür.

Die Tür ist eine uralte „Figur der Öffnung“, namentlich in der biblischen Tradition (Joh 10,9). Sie ist die Figur „einer bedrohten oder bedrohlichen Öffnung, die in der Lage ist, alles zu geben oder aber alles zu nehmen“.9 Auch heute in unserer konkreten Lebenssituation (und ihren medialen Äußerungen) nimmt „die menschliche Verlassenheit, die verzweifelte Suche nach dem ‚Sinn des Sinne‘ oder der ‚realen Gegenwart‘, […] oftmals die Gestalt von Türen an, die zu passieren oder zu öffnen sind"10.

So sitzen oder stehen wir vor dem Bildschirm „wie vor einer offenen Tür, in deren Rahmen man nicht gelangen, nicht eintreten kann: Der Mensch des Glaubens möchte etwas dort jenseits sehen; der Mensch der Tautologie dreht sich in die andere Richtung, mit dem Rücken zur Tür, und behauptet, dort nichts suchen zu brauchen, da er glaubt, sie aus dem einfachen Grunde zu repräsentieren und zu kennen, dass er neben ihr steht"11.

In einen Bildschirm sehen heißt, zugleich davor und darin zu sein, sich in eine visuelle Nähe zu begeben und zugleich unzugänglich auf Distanz gehalten zu sein, in „einer unmöglichen Beziehung von Körper zu Körper"12.

Im Osterevangelium wird der spezifisch christliche Zusammenhang zwischen Sehen und Glauben als et vidit et credidit (Joh 20,8) beschrieben. Johannes sieht in das Grab, in das Jesus gelegt worden war, und glaubte. „Was aber hat jener gesehen? Schlicht und einfach nichts. Und gerade dieses Nichts – oder dieses dreifache Nichts: einige weiße Leinenbinden im Halbdunkel einer Felshöhle –, gerade dieses Fehlen des Körpers sollte in alle Ewigkeit die ganze Dialektik des Glaubens in Gang setzen."13

Sollte ein Bildschirm schließlich ein leeres Grab sein?
 

 


1 I Andrej Tarkowskij, Nostalghia (1983).
2 I Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma, ECM Records, München 1999, 1, S. 62.
3 I Das dies nicht ohne Konsequenzen ist und längst nicht immer angemessen, bemerkt August Everding in einem Gespräch mit Alexander Kluge: „Ich kann doch nicht einfach Oper im Fernsehen übertragen, ich muss spezifische Übertragungswege finden, und die typische Fernsehoper kenne ich noch nicht. Sie kann es geben, wir können darüber reden. Aber das andere sind Adaptionen, sind Übertragungen, sind Anpassungen. Nehmen wir mal folgendes: Fernsehen. In der Oper sieht man fern, aber nicht mit dem Fernseher, sondern man sitzt weit weg von der Bühne. Und das ist die Gnade der Oper, weit weg zu sein. Das Fernsehen springt ran und zeigt etwas, das nicht für die Oper richtig ist, auch nicht gut ist für die Oper, nämlich wie der den Mund verformt und wie der sich quält und wie der schwitzt und wie der …  – alles nicht operngerecht. Selbst der Feldstecher in der Oper regt mich schon auf, weil er etwas zeigt, was nicht zum Opernbild gehört. Das Opernbild ist ein Fernbild, und da ist sogar noch ein Graben dazwischen von zwanzig Metern, was sogar noch ein Neutralisationsgraben zwischen dem Geschehen und dem Perzipierenden ist. Das muss erhalten bleiben. Aber jetzt zu meinen, ich stelle nur die Kamera in die dreißigste Reihe und nehme alles nur in einer Totalen auf, wo ich die so als kleine Männeken sehe, ist auch nicht der Weg. Darum meine ich, Oper und Fernsehen hat viel miteinander zu tun – der Ferne zu sehen, aber auch zu sehen. Und da kann das Fernsehen und helfen, indem man uns sehen lehrt, involviert zu sein durch Distanz.“ Zitiert nach: Beate Gilles, Durch das Auge der Kamera. Eine liturgisch-theologische Untersuchung zur Übertragung von Gottesdiensten im Fernsehen, Münster 2000, S. 13.
4 I Martin Wuttke und Alexander Scheer in: Lutz Pehnert, Matthias Ehlert, Adama Ulrich (Regie), Partisan. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 1992-2017, Berlin 2018.
5 I Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M. 1997, S. 167. Vgl. DELEUZE G., « Le cerveau, c’est l’écran », Cahiers du Cinéma, n. 380, Février 1986, p. 24-32. (psychaanalyse.com) (28.03.2021).
6 I Alle Zitate aus: Projektion (Psychoanalyse) – Wikipedia (27.02.2021).
7 I Georges Didi-Huberman, Was wir sehen schaut uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999. 
8 I A.a.O., S. 226.
9 I Ebd.
10 I A.a.O., S. 228.
11 I A.a.O., S. 234.
12 I A.a.O., S. 235.
13 I A.a.O., S. 25.